GeDenktag 27. Januar 2020

Dieses Motto unseres jährlich stattfindenden GeDenktags am 27.Januar, den wir an der Anna-Freud-Schule seit mehreren Jahren begehen, ist nicht erst seit dem antisemitischen Anschlag in Halle von trauriger Aktualität. Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde, darunter Überlebende der Nazi-Gräueltaten sind von Unruhe erfasst und fragen sich, ob sie Deutschland verlassen müssen. Ein unhaltbarer Zustand, dem wir uns mit aller Kraft entgegenstellen müssen, wenn wir wollen, dass Offenheit und Demokratie Bestand haben sollen.

An einem OSZ, das den Namen Anna-Freud trägt, die selbst vor den Nazis fliehen musste, ist die aktive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und ihren Kontinuitätslinien in die Gegenwart selbstverständlich. Jede Generation muss sich ihren Zugang neu erarbeiten, und gerade weil wir an der Schwelle der Zeit stehen, an der die Überlebenden unsere Welt verlassen, sie, die als Zeitzeugen berichten können, suchen wir immer wieder nach neuen Wegen, die Augen und Ohren unserer Schülerinnen und Schüler öffnen können.

In diesem Schuljahr konnten wir an unserer Schule eine Neuentdeckung machen. Ein Abiturientin spielt als Mitglied des professionellen Ensembles spreeagenten in der bewegenden Inszenierung „Das Mädchenorchester von Auschwitz“. Diese Produktion der spreeagenten ist eine Kooperation mit der Ernst-Haeckel-Schule Berlin-Hellersdorf, dem JungenKammerEnsemble der Schostakowitsch Musikschule Berlin-Lichtenberg, dem Jugendkammerorchester Berlin e.V., TATWERK Performative Forschung & Theaterscouting, dem Heimathafen Neukölln und dem Kulturzentrum Auschwitz (Oświęcimskie Centrum Kultury).
Die Regisseurin Susanna Chrudina hat für die Eröffnung unseres GeDenktags eine spezielle Fassung des Stücks erarbeitet, die als Uraufführung in einem schulischen Rahmen ihre Premiere hat. Schülerinnen und Schüler der Anna-Freud-Schule werden beteiligt.
Nähere Informationen zum Mädchenorchester finden Sie hier.

Zur Bedeutung dieses GeDenktags wird zudem eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern sprechen, die im Februar 2019 auf einer Exkursion in Auschwitz waren; sie werden über ihre Erfahrungen zu ihren peers sprechen.
So folgen wir dem Prinzip, dass junge Menschen zu Botschafter*innen werden, warum der 27.Januar – so wie 1997 vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog angeregt – zum Anlass wird, sich mit den Lehren der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Nachfolgend werden 35 Workshops angeboten, die in den Räumen der Anna-Freud-Schule stattfinden.

Zum Abschluss des GeDenktags wird Margot Friedländer (98), Überlebende des Holocaust, aus ihren Erinnerungen lesen und sprechen: „Ihr seid nun die Zeitzeugen..“
Sie wird seit mehreren Wochen von zwei Schülerinnen unserer Schule begleitet.
Außerdem wird Dr. Philipp Sonntag, Vorsitzender der Child Survivors Deutschland, sprechen sowie Ralph Wolffs, Kinderanalytiker, dessen Vater und Tante durch die Flucht mit dem Kindertransport nach England  gerettet wurden. "Wie lassen sich Auswirkungen der NS-Erfahrung im späteren Leben der ehemals Verfolgten und auch in der nächsten Generation auffinden?"

„Ihr seid nun die Zeitzeugen…“ – Nachlese zum GeDenktag in der Apostel-Paulus-Kirche

„Ihr seid nun die Zeitzeugen…“ (Margot Friedländer). Ihr seid die nächste Generation! Ihr habt die Verantwortung! Diese und vergleichbare Aufforderungen sind immer wieder an dem Morgen des 27. Januars 2020 an die anwesenden Schüler*innen, Lehrer*innen und Besucher*innen der Anna-Freud-Oberschule (OSZ Sozialwesen) in der Apostel-Paulus-Kirche in Schöneberg gerichtet worden. Keiner von den Anwesenden wird an diesem Tag, 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, gefragt, ob er und wie er diese Aufforderungen umsetzen möchte oder kann. Verschiedene Methoden und Ansätze, sich dem Erinnern zu nähern, ermöglichen an diesem Tag die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Aufforderungen. Wichtig ist der Schule aufzuzeigen, dass das Erinnern der erste wichtige Schritt ist, dem weitere aber folgen müssen. Daher das Motto des Tages: Erinnern heißt, heute handeln.

Von der Eingangs- bis zur Abschlussveranstaltung wird z.B. der Frage nachgegangen, gibt es Literatur und Kunst nach Auschwitz? Junge Darsteller*innen der Spreeagenten stellen das Leben des Mädchenorchesters Auschwitz künstlerisch dar, verbinden dabei klassische Klänge mit modernen Eindrücken und Gedanken im Schauspiel. Das zeigt, dass die kreative Erfahrung und Annäherung Raum für individuelle Auseinandersetzungen und Darstellungen bieten können. Kunst als Form der Annäherung und Aufarbeitung wird ebenso in den Workshops zu Stolpersteinen, den Rosensonetten von Gertrud Kolmar u.a. genutzt. Zum Abschied erklärt Rahel Mann eindrucksvoll, welche Bedeutung das Schreiben von Gedichten für ihren Verarbeitungsprozess hat.

Erinnern. Gedenken. Mahnen. Das ist für viele junge Menschen, die gerade auf dem Weg ins eigene Leben sind, schwierig. Der GeDenktag bietet die Gelegenheit, möglichst viele Persönlichkeiten kennenzulernen. Dabei ist es egal, ob es sich um die Namen der Mädchen im Orchester handelt, der Bewohner Schönebergs in der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“, der Namensgeberin der Schule oder vieler anderer. Jeder muss seinen persönlichen Zugang als Jugendlicher oder Kind finden. So schildert Frau Trautwein (Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin der EKBO) ihren Bezug zu Anne Frank. Auch eine Schülerin lässt uns an der eigenen Familiengeschichte, dem Wirken ihrer Urgroßeltern für die Rote Kapelle, beim Abschlussgespräch teilhaben. Dass das Erleben von Zeitzeugen etwas Besonderes und nichts Selbstverständliches ist, wird allen durch das krankheitsbedingte Fehlen von Margot Friedländer bewusst.

Das Eintreten gegen Diskriminierung, gegen rechte Argumente, gegen Antisemitismus, für Gleichberechtigung, für das Erkennen des Menschen im Menschen ist die Aufgabe der neuen Zeitzeugen. Mit dieser Aufgabe setzen sich viele Schüler*innen mithilfe der Workshops der KIGA oder der New Israel Fund Deutschland auseinander. Ebenso steht im Zentrum vieler Veranstaltungen Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung damals und heute Die Unmöglichkeit eines Schlussstriches unter die Vergangenheit wird klar: So lange Diskriminierung, Ausgrenzung, Antisemitismus existieren, haben wir als Schule die Aufgabe, die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen und dem Erinnern einen Raum zu geben.

Beim Auseinandergehen an diesem Tag steht für die meisten fest, wir sind ein selbstverständlicher Teil des Erbes und des kollektiven Gedächtnisses.

Frances Pensold
Für die Lehrer*innen der Anna – Freud – Schule